Donnerstag, 9. April 2015

Das Herz von St. Pauli


Der Morgen tief im Westen war grau und verhangen. Die Tasche gepackt, das Trikot- obschon ich es würde verstecken müssen- verstaut, bereit, den Weg in den Norden anzutreten.

Die Straßen führten mich beinahe schnurgerade bis hin zum Elbtunnel. Die Lastkräne, soweit das Auge reichte, reckten ihre Arme in den Himmel, schienen mich wie stets willkommen zu heißen, luden mich ein näher zu kommen, einzutauchen in das imposante Stadtbild, die Großzügigkeit der Straßen, das funkelnde Wasser zur Linken und zur Rechten.

Ich fand mein Hotel, ließ den Blick umherschweifen, schier endlos schien der Hafen zu sein, das Blau der Elbe konkurrierte mit dem wolkenlosen Himmel und die warme Ostersonne tauchte das quirlige Geschehen am Ufer in gleißendes Licht.

Ich stärkte mich mit einer kleinen Mahlzeit, saß auf einer hölzernen Terrasse, sog die Gerüche des Flusses in mich auf und genoss die Ruhe und den Frieden, die mich ergriffen.

Es wurde Zeit, sich auf den Weg zu machen, dorthin, weshalb ich gekommen war, zum Millerntor, der Heimat des FC St. Pauli. Das Match der Kiezkicker gegen meine Fortunen stand an und ich freute mich unbändig darauf. Das Aufeinandertreffen der beiden Mannschaften zählte zu meinen Lieblingsbegegnungen jeder Saison, dazu noch an diesem besonderen Ort. Das Millerntor ließ sich mit keinem anderen Stadion vergleichen, das ich kannte.

Nirgends sonst -außer zuhause- bekam ich Gänsehaut bei der Einlaufmusik. Nur dort wurde zu Ehren des Gastes vor Spielbeginn dessen Stadionhymne gespielt. Eine einzigartige und wunderbare Geste!

Schon immer war es mein großer Wunsch gewesen, einem Heimspiel der St. Paulianer beizuwohnen, um diese großartige und berauschende Atmosphäre dort mit ihnen zu erleben und zu teilen. Vielleicht hätte ich mir aber nicht unbedingt die Partie aussuchen sollen, in der wir Fortunen die Gegner waren. Nur der beharrlichen Mühe einiger sehr lieber Menschen hatte ich zu verdanken, dass ich an diesem Abend überhaupt dort stehen konnte, denn das Spiel war im Vorfeld binnen weniger Minuten ausverkauft, an Gästekarten nicht zu denken und dass man mir dennoch 2 der überaus begehrten und verzweifelt gesuchten Heimkarten überließ, war ein Geschenk, für das ich gar nicht genug danken konnte!

Ich hatte nicht allzu große Hoffnung auf ein für uns positiv zählbares Ergebnis, wusste ich doch um die kämpferisch auftretenden Hamburger, deren Ausgangslage auf Platz 18 gar keine andere Möglichkeit zuließ, als wirklich alles in die Waagschale zu werfen, was Körper und Geschick hergaben, um sich dem bis dato Tabellensiebten entgegenzustemmen und ihm die lebensnotwendigen Punkte abzuringen.

Diese Bemühungen fruchteten auch recht schnell und das erste Tor für St. Pauli klingelte im Kasten. Tja, und dann? Dann verselbstständigte sich das Geschehen auf seltsame Weise und überrollte mich, als stünde ich mit unsicheren Füßen auf einem Surfbrett im Angesicht einer riesigen Monsterwelle, die auf mich zu rast und mich unter sich begräbt. Tor um Tor fiel, in teils bizarrer Entstehung und mich erfasste ein Entsetzen, das mir die Sprache verschlug.

Stimmen und Schreie umgaben mich, Gesang, Gejubel und frenetische Begleitung jeder einzelnen Ballberührung der Braun-Weißen. Heimkurve, Gerade und Gegengerade trugen ihre Jungs geradezu über das Spielfeld, als entfesselten sie sich gegenseitig, es schien, als wüchsen die Spieler über sich hinaus, einzeln und im Verbund. Immer mindestens einen Schritt schneller als der Gegenspieler, wendiger, ideenreicher, kämpferischer, mutiger und spritziger. Sie düpierten den derangierten Gast aus dem Westen, deklassierten ihn und ließen ihn stehen, als bestünde er nicht aus lebendigen Spielern, sondern aus Trainingspöllern und Pappmachéfiguren.

Mein Verein ist kein erfolgsverwöhnter, Niederlagen gehören bei uns zum Alltag. Niemand, den ich kenne, nimmt es krumm, wenn es mal nicht hinhaut und keine der sämtlichen Bemühungen fruchten. Aber dieser Verein definiert sich hauptsächlich über Kampf, Hingabe und Leidenschaft. Nichts davon war jedoch auf dem Rasen zu sehen. Es erschien mir wie ein kopfloses Ergeben in eine Lage, die man ja sowieso nicht ändern kann. Nicht das kleinste Bisschen lief zusammen, die Spieler ergingen sich in unfruchtbarem Stückwerk, an Teamarbeit - einer für und mit dem anderen - gepaart mit einem Minimum an Spielübersicht, mangelte es vollständig, der bereits in vergangenen Partien gezeigte Slapstick gesellte sich wiederholt dazu. Ich erkannte weder ein taktisches Grundprinzip, noch konnte ich die Wechsel nachvollziehen. Das mag an meinem fehlenden Sachverstand liegen, aber das einzig zählbare, was in der Folge zustande kam, waren Fehlpässe und missglückte Ballannahmen.

Da stand ich nun, mitten im Herzen von St. Pauli. Es pulsierte, schlug lauthals wie wild und voller Leben. Es tanzte voller Übermut und seine pure Freude ergoss sich über mich und tobte um mich herum, während das meine blutete und weinte.

Starr, stumm und erschüttert stand ich mittendrin und fühlte mich vollkommen hilflos und einsam. Die Hände tief in die Jackentaschen vergraben ballte ich sie zu Fäusten und schluckte unentwegt, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Und ich beschloss zum ersten Mal in meinem Fandasein etwas zu tun, das ich zutiefst verabscheute. Ich ging.

Entließ mich selbst in die dunkle Nacht, in eine gespenstische Stille nach all dem Lärm und der grenzenlosen Heiterkeit. Ich schlich meinen Weg zurück ins Hotel, Schritt für Schritt setzte ich einen Fuß vor den anderen und fragte mich: "Warum?"

Es war nicht die Niederlage als solche, die mir zu schaffen machte, sondern die Art, wie sie zustande gekommen war.

Fühlten sie denn nicht, was ich fühlte, jeden Spieltag aufs Neue, immer gleich und doch nie Routine, das aufgeregte Kribbeln im Magen, die Spannung, den erhöhten Pulsschlag, die Stunden und Minuten zählend bis zum Spielbeginn? Waren sie denn nicht wie ich mit Stolz und Ehrfurcht erfüllt, wenn sie ihr - unser - Trikot überzogen, in Gedanken bei ihrem - unseren - Verein? Waren sie denn nicht bereit immer alles zu geben, auch wenn bereits feststand, dass wir weder auf- noch absteigen würden? Waren sie nicht mit dem Herzen dabei, so wir wir, die sie begleiteten von Ground zu Ground?

Hatten sie denn schon mit diesem Verein abgeschlossen, ihn in Gedanken bereits verlassen und war es ihnen egal, wie sie uns zurückließen, uns, die diesen Verein liebten, die ihm die Treue hielten und die sich ihm verschrieben hatten, vielleicht sogar ein Leben lang?

Ich fand keine Antworten. Ich warf einen letzten Blick auf die Elbe, auf der das Mondlicht in dieser schwarzen Nacht glitzerte. Schaltete den Fernseher ein, über den Screen flimmerte der Titel des Spiefilms, "Stirb langsam", Teil IV.

Damit war wohl alles gesagt.

Längst bin ich wieder zuhause, noch immer ratlos ob der Geschehnisse. Mein Trikot hängt an seinem angestammten Platz, wie immer zwischen den Spieltagen, auf dem Bügel am Kleiderschrank, dort, wo ich es als erstes hinsehe, wenn ich morgens aufwache und als letztes, bevor ich einschlafe. Jedes Mal, wenn ich es ansehe, durchströmt mich ein Gefühl der Wärme. Manchmal lächle ich es an. Ich lese meine Heimatstadt und den Namen einer meiner Lieblingsspieler darauf, die auf die Rückseite geflockt sind. Sein Rot leuchtet mir entgegen und erfüllt mich mit inniger Zuneigung. Es gehört zu mir und ist ein Teil von mir. Kein Misserfolg kann daran etwas ändern.

Noch einmal dachte ich an das Herz von St. Pauli. An die Menschen dort, die ihren Verein nicht minder lieben, als ich meinen. Die vermutlich denselben Stolz spüren, wenn sie ihr Trikot oder ihren Schal tragen. Denen ich nichts sehnlicher wünsche, als dass sie unserer Liga erhalten bleiben.

Für meine Fortuna erhoffe ich mir, dass sie es irgendwie schafft, das Restprogramm der Saison mit Anstand über die Bühne zu bringen. Ich erwarte keinen brasilianischen Zauberfußball und kein Wunder von Düsseldorf, aber ich wünsche mir, dass sich die Jungs nicht kampflos ergeben und es über sich ergehen lassen. Denn das hat unser Verein nicht verdient.


Zum Schluss noch von Herzen ein ganz besonderer Gruß an @astiae@doc_Zook@Hollywood20359 und @mirnein. Danke, dass Ihr für mich da wart! <3







Fortuna Düsseldorf. Meine Liebe, mein Verein.